736 Abgeordnete sitzen derzeit im Deutschen Bundestag. Das sind ganze 138 Parlamentarier mehr als die Regelgröße von 598. Der Grund liegt in unserem Wahlrecht aus Erst- und Zweitstimme. Mit der Erststimme wählen Sie den Direktkandidaten im Wahlkreis, mit der Zweitstimme werden Parteien gewählt, und damit das Größenverhältnis der Parteien im Bundestag bestimmt.
Warum der Bundestag immer größer wird
Gewinnt eine Partei nun sehr viele Direktmandate und fährt im Vergleich dazu kein ganz so gutes Zweitstimmenergebnis ein, kann es dazu kommen, dass sie mehr Abgeordnete stellt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis „zustehen“. Das sind sogenannte Überhangmandate. Diese werden ausgeglichen, indem die anderen Parteien so viele Mandate (Ausgleichsmandate) bekommen, bis das Kräfteverhältnis im Bundestag wieder so ist, wie es nach dem Zweitstimmenergebnis sein soll.
Dieses Wahlrecht in Verbindung mit einer zunehmenden Fragmentierung unseres Parteiensystems führt dazu, dass der Bundestag immer größer wird. Dass dies ein Problem ist, haben alle Parteien erkannt. Die Lösung hingegen ist gar nicht so leicht.
Wahlrecht: Der Reformvorschlag der Ampel
Die Ampel hat nun einen Vorschlag gemacht, der vorsieht, dass es schlicht keine Überhangmandate mehr geben soll. Gewinnt eine Partei mehr Direktmandate als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, sollen die Gewinner mit dem schwächsten Ergebnis ihr Mandat nicht mehr bekommen – obwohl sie, das sei hier noch einmal betont, die meisten Erststimmen erhalten haben.
Damit alle Wahlkreise dennoch einen Abgeordneten bekommen, soll es eine sogenannte Ersatzstimme geben. Wähler sollen also eine Art „zweite Erststimme“ für ihren zweitliebsten Kandidaten oder ihre zweitliebste Kandidatin abgeben, die aber nur dann zum Zuge kommt, wenn es sonst zu einem Überhangmandat kommen würde.
Verfassungsrechtliche Bedenken
Es wird Sie nicht verwundern, dass dieser Vorschlag weder bei mir persönlich noch bei meiner Fraktion auf große Begeisterung stößt. Ganz abgesehen davon, dass das System sehr kompliziert ist und für viele Bürger ziemlich undurchschaubar sein dürfte, haben wir auch verfassungsrechtliche Bedenken, die die grundgesetzlich vorgeschriebene Unmittelbarkeit der Wahl betreffen. Welche Person ein Mandat erringt, hängt dann von vielen Faktoren ab, auf die der einzelne Wähler keinen Einfluss hat.
Gefahr der zunehmenden Polarisierung
Es gibt da aber auch eine andere Ebene. Parteien würden durch dieses System ermutigt, sich auf ihre Kernklientel zu fokussieren. Konservativ-bürgerliche Parteien etwa auf eine eher konservative Wählerschaft im ländlichen Raum. Progressivere Kandidaten in Städten aufzustellen, würde sich eher nicht mehr auszahlen.
Kandidaten linker Parteien oder der Grünen müssen spiegelbildlich ebenfalls nicht mehr in die Mitte streben (bzw. es müssen keine Kandidaten aufgestellt werden, die das überhaupt vermögen), um eine breitere Wählerschaft anzusprechen – können sie doch als Zweitplatzierte mit extremeren Positionen dennoch in den Bundestag einziehen. Ein Wahlrecht, das die Polarisierung befeuert, können wir wahrlich nicht gebrauchen.
Es geht um die Legitimität unserer Demokratie
Da es sich beim Wahlrecht um ein einfaches Bundesgesetz handelt, könnte es die Ampel auch mit einfacher Mehrheit beschließen. Es ist allerdings gute Übung, dass beim Wahlrecht, bei dem es letztendlich um die Legitimität unsere Demokratie geht, ein überparteilicher Kompromiss gefunden wird. Eine Reform, die tatsächlich dafür sorgt, dass der Bundestag wieder kleiner wird, dürfte allen Parteien ein bisschen wehtun. Allerdings: Vor bloßer Parteipolitik kann ich nur warnen.