Vollbesetztes Haus bei der Gedenkfeier 75 Jahre Befreiung von Auschwitz © Deutscher Bundestag/ Achim Melde

„Wir vergessen nicht, was geschehen kann!“

Zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz hat der Bundestag am Mittwoch in einer Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Ehrengast war der israelische Staatspräsident Reuven Rivlin, der Deutschland für seine Anstrengungen im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus dankte. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier appellierte in seiner sehr klugen und nachdenklichen Rede, neue Formen des Gedenkens zu finden für eine junge Generation, die fragt: „Was hat diese Vergangenheit mit mir und mit meinem Leben zu tun?“

„Verantwortung im Hier und Heute tragen wir alle“

„Ihr habt Eure Geschichte, wir haben unsere“, könne und dürfe nicht die Antwort sein, so Steinmeier. Die Lehren aus unserer Geschichte müssten zum Selbstverständnis aller Deutschen gehören; denn die Verantwortung im Hier und Heute trügen wir alle.

Wer Auschwitz verstehen wolle, müsse sich an die Wurzeln des nationalsozialistischen Weltbildes erinnern, sagte der Bundespräsident, an völkisches Denken, an Antisemitismus und Rassenhass, an die Verrohung der Sprache schon in der Weimarer Republik, an die Zerstörung der Vernunft, an den Einzug der Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung und auch an die Verächtlichmachung des Parlaments, die Zertrümmerung des Rechtsstaates und der Demokratie.

„Unser Rechtsstaat ist die Umkehrung völkischen Denkens“

Der erste Satz unserer Verfassung sage jedem, was in Auschwitz geschehen sei, so Steinmeier weiter. „Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat ist die Umkehrung des völkischen Denkens. Er stellt die Menschenwürde jedes Einzelnen ins Zentrum. Wer also erinnern will, der muss Demokratie und Rechtsstaat schützen, wo immer eines von beiden infrage gestellt ist!“

Vor wenigen Jahren hätte seine Rede an diesem Punkt enden können, erläuterte der Bundespräsident. Alle waren sich einig über die Lehren der Vergangenheit und eine Erinnerungskultur, die es gemeinsam zu pflegen gelte. Diese Selbstgewissheit sei trügerisch gewesen.

„Die bösen Geister zeigen sich in neuem Gewand“

Seine Sorge gelte inzwischen nicht mehr der Verleugnung der Vergangenheit, sondern „dass wir die Vergangenheit inzwischen besser verstehen als die Gegenwart.“ Denn der alte Ungeist sei nicht vergangen, sagte er unter Verweis auf den Anschlag von Halle, auf Anfeindungen gegen Juden, auf Drohungen gegen Politiker und all diejenigen, die Verantwortung für die Demokratie übernehmen, auf Hass und Hetze im öffentlichen Diskurs. „Die bösen Geister zeigen sich in neuem Gewand“, warnte er. „Mehr noch: Sie präsentieren ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Vision, geradezu als die bessere Antwort auf die offenen Fragen der Zeit.“

„Müssen diese Prüfung unserer Zeit bestehen“

Selbstkritisch fügte er hinzu, auf all das nicht genügend vorbereitet gewesen zu sein. Nun gelte es, diese Prüfung unserer Zeit zu bestehen: „Das sind wir der Verantwortung vor der Geschichte, den Opfern und auch den Überlebenden schuldig!“ Deshalb, so Steinmeier, dürfe es keinen Schlussstrich geben. Er versicherte: „Wir vergessen nicht, was geschehen ist! Aber wir vergessen auch nicht, was geschehen kann!“

An den israelischen Präsidenten gewandt betonte der Bundespräsident seine Dankbarkeit: „Ihre Anwesenheit heute hier ist ein Zeichen der Verbundenheit zwischen Deutschland und Israel.“ Er verstehe dieses Zeichen aber auch als Verpflichtung, „uns der Hand, die Israel uns gereicht hat, würdig zu erweisen“, denn er wisse, dass die Versöhnung eine Gnade sei, die wir Deutsche nicht erhoffen konnten oder gar erwarten durften. Steinmeier betonte abschließend: „Wir wollen zeigen, dass unser Land dem neu geschenkten Vertrauen gerecht wird. Damit das, was geschehen kann, nicht geschehen wird.“

Die komplette Rede finden Sie hier.