Selenskyj im Bundestag: Bewegende Rede, beschämender Umgang

Die Ansprache von Wolodymyr Selenskyj im Deutschen Bundestag hätte eine Sternstunde des deutschen Parlamentarismus werden können – hätte! Dass ich hier den Konjunktiv benutzen muss, ist einzig und allein der Regierungskoalition zuzuschreiben.

Was ist das deutsche „Nie wieder“ wert?

Präsident Selenskyj hat uns am 17. März im wahrsten Sinne des Wortes ins Gewissen geredet. Per Videoschalte trat er nicht als Bittsteller auf, sondern forderte zu Recht mehr Unterstützung für sein Land ein, in das russische Soldaten einmarschiert sind und dessen Städte unter ständigem Raketenbeschuss stehen. Er erinnerte uns daran, dass die Ukraine schon lange vor dem russischen Angriff gewarnt hatte, dass die Nordstream-Pipelines Bausteine in Wladimir Putins Kriegsplan seien. Wir wollten es damals nicht hören. Der ukrainische Präsident rief uns ins Gedächtnis, dass es maßgeblich die Bundesrepublik war, die den NATO-Beitritt der Ukraine verhindert habe. Wir wollen es heute nur ungern hören. Er berichtete von Raketenangriffen auf Kinderkrankenhäuser und Geburtskliniken. Das zu hören, ist fast unerträglich.

Er sprach von einer Mauer, die zwischen Deutschland und der Ukraine verlaufe. „Herr Scholz, reißen Sie die Mauer ein“, rief er dem Kanzler zu, in Anlehnung an Ronald Reagans berühmte Rede vor dem Brandenburger Tor.

Präsident Selenskyj forderte einen schnellen EU-Beitritt seines Landes und die Errichtung einer Flugverbotszone über ukrainischem Staatsgebiet. Seine Rede gipfelte in der Frage, was das deutsche „Nie wieder“ wert sei, wenn wir nach 80 Jahren wieder dabei zusähen, wie das ukrainische Volk vernichtet wird.

Selenskyj hätte eine Antwort des Kanzlers verdient

Man muss nicht jeden einzelnen Punkt aus Selenskyjs Rede teilen. Man kann einige, etwa die Flugverbotszone, sogar für gefährlich halten, weil ein derartiges Eingreifen der NATO-Staaten zu einem Flächenbrand, zu einem dritten Weltkrieg führen könnte. Aber: Wir hätten gut daran getan, Selenskyjs Forderungen zu debattieren. Ein Präsident, der sein Land Tag für Tag gegen russische Invasoren verteidigt, dem Putin nach dem Leben trachtet und der sich dennoch die Zeit genommen hat, im Deutschen Bundestag zu sprechen, hätte eine Antwort des deutschen Bundeskanzlers verdient. Erst recht, nachdem der ukrainische Staatspräsident ihn direkt angesprochen hatte.

Unwürdiger Übergang zur Tagesordnung

Stattdessen ging Bundestagspräsidentin Göring-Eckardt wortwörtlich zur Tagesordnung über. Wie von der Ampel-Mehrheit beschlossen, sollte über die Impfpflicht gestritten werden. Einzig Geburtstagsglückwünsche an zwei Kollegen und die Verkündung, wie der Beirat „Haus der kleinen Forscher“ besetzt sei, trennten die historische Rede eines befreundeten Staatsoberhaupts von den Niederungen der Tagespolitik.

Ich bin unserem Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz dankbar, dass er dieses unwürdige Vorgehen der Regierung und der sie tragenden Fraktionen klar benannt hat. „Das stößt auf unseren Widerstand und auf unsere Missbilligung. Wir sind damit nicht einverstanden.“, sagte Merz – und dem ist nichts hinzuzufügen.